Seit 1993 herrscht freier Verkehr für Bürger:innen, Waren, Dienstleistungen und Kapital innerhalb der EU. Aus dem EU-Wohlstandsversprechen ist jedoch ein beinharter Kampf um die niedrigsten Standards geworden – auf dem Rücken der Arbeitnehmer:innen.
Geringere Gewinne und Umsatzrückgänge verschärfen den Wettbewerb. Oftmals wird auf billigere entsandte Arbeitnehmer:innen zurückgegriffen, denn die Lohnunterschiede in der EU sind riesig. Der österreichische Stundenlohn ist viermal höher als in Rumänien, Ungarn und Polen und dreimal höher als in Tschechien. Österreich ist (relativ zur Größe) so zum Top-Zielland für Entsendungen geworden.
Mit der Verabschiedung der „Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union“ konnten die Gewerkschaften ein Kernanliegen umsetzen und Geschichte schreiben. Zum ersten Mal überhaupt wurde eine EU-Rechtsvorschrift mit dem expliziten Ziel erlassen, angemessene Mindestlöhne zu garantieren und nationale Tarifvertragssysteme zu stärken. Die Mindestlohn-Richtlinie gehört daher zu den wichtigsten arbeits- und sozialpolitischen Maßnahmen, die bislang auf europäischer Ebene verabschiedet wurden.
Sie hat das Potenzial, zu einem wirklichen „Game-Changer“ im Kampf gegen Erwerbsarmut und soziale Ungleichheit zu werden. Dies liegt nicht nur an den in der Richtlinie festgelegten Maßnahmen, die direkt auf die Sicherung eines angemessenen (gesetzlichen) Mindestlohnniveaus abzielen, sondern vor allem auch an den festgelegten Maßnahmen zur Förderung von Tarifverhandlungen und der damit verbundenen Stärkung der institutionellen Macht der Gewerkschaften.
Die konkrete Bedeutung der Mindestlohn-Richtlinie entscheidet sich schließlich mit ihrer Umsetzung auf nationaler Ebene, die bis Oktober 2024 erfolgen muss. Dabei definiert die Richtlinie keine rechtlich verbindlichen Standards, sondern schafft einen wichtigen politischen Referenzrahmen, der auf nationaler Ebene diejenigen Positionen und Akteur:innen stärkt, die für angemessene Mindestlöhne und starke Tarifverhandlungen eintreten. Ihre Durchsetzung muss jedoch nach wie vor im nationalen Rahmen erkämpft werden, und zwar nicht nur in Ländern mit einem gesetzlichen Mindestlohn, sondern auch in Ländern wie Österreich, in denen Mindestlöhne tarifvertraglich festgelegt werden.
Trotzdem ist eine Menge an weiteren Maßnahmen zu setzen, um Lohn- und Sozialdumping in der Europäischen Union zu beenden.
Forderungen für einen fairen europäischen Wettbewerb:
- Die Europäische Arbeitsbehörde mit Sitz in Bratislava muss aufgewertet und mit den notwendigen Kompetenzen ausgestattet werden. Über die Verpflichtung nationaler Behörden zur Zusammenarbeit muss sie den grenzüberschreitenden Vollzug sicherstellen können. Strafbescheide müssen also tatsächlich exekutierbar sein, so wie das bei Verkehrsstrafen seit langem EU-weit funktioniert. Nationale Behörden sollen vor Ort bestrafen und beschlagnahmen können.
- Grenzüberschreitend tätige Arbeitnehmer:innen müssen besser vor Ausbeutung geschützt werden. Der Grundsatz der Entsenderichtlinie – „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ – muss künftig auch mit vollem Sozialversicherungsschutz durchgesetzt werden.
- Der unfaire Wettbewerb über Lohnnebenkosten, der entsandte Arbeitnehmer:innen um Pensionsansprüche und andere Sozialleistungen bringt, muss beendet werden.
- Sozialversicherungsbeiträge müssen von den Entsendeunternehmen an den Heimatstaat in voller Höhe und auf Basis des tatsächlichen Lohnes des Ziellandes abgeführt werden.
- Scheinentsendungen zur Umgehung von örtlichen Bestimmungen müssen effektiver bekämpft werden. Voraussetzung für echte Entsendungen muss künftig eine Mindestbeschäftigungsdauer im Herkunftsland von drei Monaten vor der Entsendung sein.
- Die erforderlichen Entsendebestätigungen müssen künftig jedenfalls bereits vor Arbeitsbeginn vorliegen, um Missbrauch zu erschweren.